ADHS – Abweichung von der Norm wird zur Störung

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Silvia
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ADHS – Abweichung von der Norm wird zur Störung

Beitrag von Silvia » Freitag 17. September 2010

ADHS – Abweichung von der Norm wird zur Störung

Für Medikamente gegen das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom wird bei Elf- bis 14-Jährigen mittlerweile mehr Geld als für Erkältungsmittel ausgegeben. Nur: die Hälfte der Diagnosen in Deutschland ist nicht belegt. Nach dem Tod eines 16-Jährigen stellt sich die Frage: Wird da eine Krankheit konstruiert?

20.09.2005 Weltkindertag: Hyperaktiv und einsam
Foto: PA ADHS-Kinder: hyperaktiv und oft ziemlich einsam

Von Wieland Freund

Skandal oder kein Skandal? Und wenn Skandal, dann was für einer? Als das ZDF-Magazin "Frontal21" unlängst berichtete, vier Kinder und Jugendliche könnten infolge der Einnahme des ADHS-Medikaments Strattera gestorben sein, titelte die "Süddeutsche Zeitung" "Skandal bei Frontal". Ein Musterbeispiel medialer Selbstreferentialität. Denn zwar konnte das Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte (Bfarm), auf dessen "interne Unterlagen" man sich bei "Frontal" berufen hatte, drei der vier Verdachtsfälle nicht bestätigen, ein 16-Jähriger aber hat sich im Dezember 2005 tatsächlich umgebracht. Er war nach "Frontal"-Recherchen wegen psychischer Erkrankungen mit Strattera behandelt worden - die Suizidalität dieses Medikaments ist seit Jahren bekannt. Ist das ein Medienskandal? Ein Fall von öffentlich-rechtlichem Alarmismus?

Der GEK-Arzneimittelreport spricht dagegen. Ihm zufolge wird in der Gruppe der Elf- bis 14-Jährigen mittlerweile mehr Geld für ADHS-Medikamente als für Erkältungsmittel ausgegeben. 400 000 Mal sei die Diagnose ADHS in Deutschland bisher gestellt worden, heißt es. Eine andere Quelle besagt, etwa jedes 20. Kind sei betroffen. Sind Aufmerksamkeitsdefizite (AD) und Hyperaktivität (das H in ADHS) die Reaktion der Kinder auf eine überreizte, hyperaktive Welt und damit eine Zivilisationsstörung? Oder ist ADHS womöglich ein gesellschaftlicher Virus - von der Informationsgesellschaft übertragen wie die Schlafkrankheit von der Tsetsefliege?

Wohlgemerkt: Das "Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom mit oder ohne Hyperaktivität" wird nicht im Labor, sondern durch Fragebögen diagnostiziert, die für ein und dasselbe Kind - je nachdem, wer die Bögen ausgefüllt hat, Eltern, Lehrer oder Erzieher - zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen führen können. ADS beginnt somit da, wo die Abweichung von einer Verhaltensnorm groß genug scheint, um als Verhaltensstörung gelten zu können. Die Norm selbst allerdings ist, anders als ein Blutwert, nicht absolut, sondern eben relativ - das Ergebnis einer gesellschaftlichen Setzung. Wenn aber jedes 20. Kind als verhaltensauffällig oder verhaltensgestört gilt, liegt dann nicht der Verdacht nahe, dass nicht oder nicht allein die Kinder sich verändert haben, sondern vor allem die Norm eine andere ist?

Ritalin-Verbrauch immens gestiegen

Die Mainzer Sonderpädagogin Claudia Roggensack spricht in ihrem Buch "Mythos ADHS" von der "Konstruktion einer Krankheit". In einer Zeit "relativ hoher gesellschaftlicher Toleranz von Medikamenten als einfachsten Mitteln zur Problemlösung" scheine es naheliegend, schreibt sie, "eine vermeintliche Abweichung von gesellschaftlich erwünschten Normen auf unproblematische Weise zu regulieren." Das allerdings setze voraus, dass die Abweichung den Status einer Krankheit erhalte. "Denn erst das Vorhandensein einer klar diagnostizierbaren Krankheit erlaubt die Behandlung mit entsprechend medikamentösen Mitteln. Ist aber erst einmal abweichendes Verhalten generell zur Krankheit stilisiert worden, so wird man unschwer aller Orten auf diese Krankheit stoßen." Dem "Deutschen Ärzteblatt" zufolge stieg der Verbrauch von Methylphenidat - besser bekannt als das Psychopharmakon Ritalin - allein zwischen 1993 und 2001 von 34 auf 639 Kilo.
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Wie viele der zu einem solchen Mengenverbrauch nötigen Rezepte aber sprechen die Sprache jener "anderen Art des Wahnsinns", die der Philosoph Michel Foucault beschrieben hat - "dieser anderen Art, in der die Menschen miteinander in der Haltung überlegener Vernunft verkehren, die ihren Nachbarn einsperrt, und in der sie an der gandenlosen Sprache des Nicht-Wahnsinns einander erkennen"?

Diagnose auf Verdacht

Selbst die "Süddeutsche Zeitung", eigentlich doch einem Medienskandal auf der Spur, gesteht ein, dass die Hälfte der fast 400.000 ADS-Diagnosen in Deutschland nicht belegt ist. Das macht 200.000 auf Verdacht diagnostizierte, zum Teil schwer medikamentierte Kinder und Jugendliche. Ist das Doping für die Bildungsrepublik? Wird "Ritalin oder nicht?" zur elterlichen Gewissensfrage - so wie die auf Spielplätzen vorgetragene irrwitzige Dichotomie der Erziehungsziele "Charakter" oder "Karriere"?

Der Mentalitätswandel scheint radikal. Nach 1945 machte eine gewisse Pippi Langstrumpf Karriere, eine, wie Astrid Lindgren, schreibt, "umtriebige Natur", die weder rechnen will noch rechtschreiben kann, "Plutimikation" sagt und "WAS IR WOLT" meint. Die Ur-Pippi war aus dem Geist des experimentellen Nonsens der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geboren und wurde mit der Kulturrevolution der Sechziger- und Siebzigerjahre zur Ur-Figur kindlicher Freiheit. Heute bekäme eine reale Pippi wohl Ritalin verschrieben - so wie auch Tom Sawyer, Winnie Puhs quirliger Freund Tigger und der berühmte Zappelphilipp aus Heinrich Hoffmanns "Struwwelpter".

Reale Nöte von Eltern und Kindern

Hoffmann übrigens, zu Zeiten der antiautoritären Bewegung verschrien, war Nervenarzt. Dennoch traute er den Kindern die Fähigkeit zur Einsicht und den Eltern den Willen zur Erziehung zu. "Seht, ihr lieben Kinder, seht, / Wie's dem Philipp weiter geht", heißt es im "Struwwelpeter". Vor einer Generation galt dergleichen noch als Raubein-Pädagogik. Heute müsste Hoffmann beinahe als Kümmerer und Erziehungsoptimist gelten, der statt des Pillendöschens den Zeigefinger schwingt.

Keine Frage: Die Nöte von Kindern und Eltern sind real. Nagende Unsicherheit, zerbrochene Familienstrukturen, enge Räume, schnelle Wechsel, grelle Reize und eine in ihrer Komplexität kaum noch überschaubare Gesellschaft machen ihnen schwer zu schaffen.

Sonderpädagogin Claudia Roggensack spricht in diesem Zusammenhang von einer "großen Erziehungsunsicherheit" der Eltern, zu der die antiautoritäre Bewegung auch noch beigetragen haben mag. Und dennoch: Nicht die vielleicht zweifelhafte Recherche eines Fernsehmagazins, sondern 400.000 ADS-Diagnosen sind der Skandal. Denn ADS wird nicht wie die Schlafkrankheit übertragen, sondern eher wie die "weibliche Hysterie" in den Anfängen der Frauenbewegung.

Wieland Freund, geboren 1969 bei Paderborn, ist Schriftsteller und Journalist. Für seine ersten beiden Kinderbücher, "Lisas Buch" (2003) und "Gespensterlied" (2004) erhielt er den Bayerischen Kunstförderpreis. Er ist außerdem Mitherausgeber des Fachbuches "Der deutsche Roman der Gegenwart" (2003). Freund lebt mit seiner Familie in Berlin. Zuletzt veröffentlichte er den Roman "Die unwahrscheinliche Reise des Jonas Nichts" (2007).
http://www.welt.de/gesundheit/article29 ... erung.html
„Man muss nicht verrückt sein, aber es erleichtert das Leben ungemein“.

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