ADHS kann auch Erwachsene aus der Bahn werfen
Verfasst: Freitag 17. September 2010
ADHS kann auch Erwachsene aus der Bahn werfen
Erwachsene ADHS-Patienten leiden unter beruflichen und privaten Problemen. Sie haben häufiger Unfälle und sind einem größeren Risiko ausgesetzt, straffällig zu werden. Erkrankungen wie Depressionen, Ängste und Sucht sind nicht selten. Das Phantom ADHS kann sehr zerstörerisch sein.
Von Isabel Fannrich-Lautenschläger
Der Uhrzeiger taktet ihren Weg bis zur Bushaltestelle. Das Handy klingelt: Es ist Zeit für die Medikamente, und der Kalender vermerkt jede kleine Erledigung des Tages. „Das ist harte Arbeit“, sagt Ana Campos (Name geändert). Sie ist 36 Jahre alt und kämpft täglich um Struktur, um einen regelmäßigen Alltagsrhythmus, um Konzentration. Erst als ihr sechsjähriger Sohn untersucht wurde, weil er überaktiv und impulsiv war, kam sie auf die Idee, sie selbst könne an ADHS leiden – der sogenannten Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Störung.
Über kleine Zappelphilippe, ADHS im Kindesalter und die Behandlung mit Medikamenten ist in den vergangenen Jahren in Deutschland viel diskutiert worden. Dass die Krankheit aber bei 30 bis 60 Prozent der Betroffenen im Erwachsenenalter fortbesteht, wird erst allmählich bekannter. Eine Studie, die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung finanziert wird, untersucht derzeit die Behandlungsmöglichkeiten für erwachsene ADHS-Patienten.
Zwar ist das Krankheitsbild in der deutschen Psychiatrie etabliert. Doch ADHS werde oft nicht als psychiatrische Erkrankung ernst genommen, sondern – wie beim Zappelphilipp – als Verhaltensstörung gesehen, sagt Wolfgang Retz. Er ist Professor am Uniklinikum des Saarlandes in Homburg, das an der Studie beteiligt ist. „Das wächst sich aus“ oder „Krank ist nur die Umwelt“, seien gängige Meinungen.
„Das verdreht die Problematik“, kritisiert der Psychiater. Infolge dieser Fehleinschätzung ende die Behandlung von Jugendlichen oft schon in der Pubertät. Nur ein Bruchteil der Erwachsenen werde medizinisch betreut. „Nicht jede Diagnose erfordert Behandlung“, schränkt Retz ein. Diese sei nur dann nötig, wenn jemand Schwierigkeiten habe, den Alltag zu bewältigen.
Bei ADHS liegt eine Stoffwechselstörung vor, bei der Botenstoffe wie Dopamin und Noradrenalin im Gehirn aus dem Gleichgewicht geraten und die Reizweiterleitung stören. Betroffene können sich nur schwer auf eine Sache konzentrieren, weil sie auf verschiedene Reize gleichzeitig reagieren. Sie vergessen Termine und kriegen das Durcheinander zu Hause kaum in den Griff. Ihre Gefühle fahren Achterbahn, viele reagieren sehr impulsiv.
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„Unerkannt gleicht die ADHS einem Phantom, das sich durch das gesamte Leben zieht und das sehr zerstörerisch sein kann“, heißt es beim bundesweit tätigen Selbsthilfeverein „ADHS Deutschland“. Viele erwachsene ADHS-Patienten leiden unter beruflichen und privaten Problemen. Nach Auskunft des von Wissenschaftlern gegründeten „ADHS-Netzes“ haben sie häufiger Unfälle und sind einem größeren Risiko ausgesetzt, straffällig zu werden. Weitere Erkrankungen wie Depressionen, Ängste und Sucht sind nicht selten.
Ana Campos wusste lange Zeit nicht, wie sie ihren Mangel an Konzentration und ihre Impulsivität einschätzen sollte. In der Schulzeit saß sie immer vorne, um sich nicht ablenken zu lassen. Vor zehn Jahren kam die Argentinierin nach Berlin. Statt ihrem Wunsch nachzugeben und Psychologie zu studieren, kellnerte sie jahrelang. „Ich bin sehr schnell und schaffe mehrere Dinge gleichzeitig.“ Ihre Ehe jedoch ging in die Brüche.
„Die Störung ist gut behandelbar“, sagt Wolfgang Retz. Bislang wisse man aber zu wenig über den Erfolg von Psychotherapie bei erwachsenen Patienten. Deshalb untersuchen die Wissenschaftler bundesweit knapp 500 Patienten.
Im Mittelpunkt der Verhaltenstherapie steht das speziell für ADHS-Patienten entwickelte „Gruppenfertigkeitentraining“. Dieses kann Erwachsenen helfen, sich besser zu organisieren. „Das Ziel ist, ADHS zu kontrollieren, statt von ADHS kontrolliert zu werden“, betont die Psychiaterin Barbara Alm vom Zentralinstitut für seelische Gesundheit.
Eine aus dem Zen-Buddhismus abgeleitete Achtsamkeitsübung soll darüber hinaus helfen, sich besser zu konzentrieren. „Oft ist man nicht bei der Sache“, erzählt Alm: „Man geht zu einem Vortrag und trinkt noch einen Kaffee. In Gedanken ist man noch bei der Autofahrt und beim Geschenk, das man für morgen braucht. Und plötzlich ist der Becher leer. Es geht aber darum zu lernen, sich bewusst in der Situation auf das Kaffeetrinken zu konzentrieren.“
Erwachsene mit ADHS haben häufig Stärken, die sie selbst nicht erkennen. Sie gelten als besonders kreativ und können sich auf etwas, das sie interessiert, besonders gut konzentrieren. Sie sind einfühlsam und hilfsbereit. Ana Campos versucht, dieses Potenzial zu nutzen und bildet sich jetzt zur Psychotherapeutin fort. „Seitdem ich weiß, warum ich anders ticke, kann ich mich besser akzeptieren. Ich versuche nicht, etwas zu leisten, was ich nicht kann.“
EPD
http://www.welt.de/gesundheit/article68 ... erfen.html
Erwachsene ADHS-Patienten leiden unter beruflichen und privaten Problemen. Sie haben häufiger Unfälle und sind einem größeren Risiko ausgesetzt, straffällig zu werden. Erkrankungen wie Depressionen, Ängste und Sucht sind nicht selten. Das Phantom ADHS kann sehr zerstörerisch sein.
Von Isabel Fannrich-Lautenschläger
Der Uhrzeiger taktet ihren Weg bis zur Bushaltestelle. Das Handy klingelt: Es ist Zeit für die Medikamente, und der Kalender vermerkt jede kleine Erledigung des Tages. „Das ist harte Arbeit“, sagt Ana Campos (Name geändert). Sie ist 36 Jahre alt und kämpft täglich um Struktur, um einen regelmäßigen Alltagsrhythmus, um Konzentration. Erst als ihr sechsjähriger Sohn untersucht wurde, weil er überaktiv und impulsiv war, kam sie auf die Idee, sie selbst könne an ADHS leiden – der sogenannten Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Störung.
Über kleine Zappelphilippe, ADHS im Kindesalter und die Behandlung mit Medikamenten ist in den vergangenen Jahren in Deutschland viel diskutiert worden. Dass die Krankheit aber bei 30 bis 60 Prozent der Betroffenen im Erwachsenenalter fortbesteht, wird erst allmählich bekannter. Eine Studie, die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung finanziert wird, untersucht derzeit die Behandlungsmöglichkeiten für erwachsene ADHS-Patienten.
Zwar ist das Krankheitsbild in der deutschen Psychiatrie etabliert. Doch ADHS werde oft nicht als psychiatrische Erkrankung ernst genommen, sondern – wie beim Zappelphilipp – als Verhaltensstörung gesehen, sagt Wolfgang Retz. Er ist Professor am Uniklinikum des Saarlandes in Homburg, das an der Studie beteiligt ist. „Das wächst sich aus“ oder „Krank ist nur die Umwelt“, seien gängige Meinungen.
„Das verdreht die Problematik“, kritisiert der Psychiater. Infolge dieser Fehleinschätzung ende die Behandlung von Jugendlichen oft schon in der Pubertät. Nur ein Bruchteil der Erwachsenen werde medizinisch betreut. „Nicht jede Diagnose erfordert Behandlung“, schränkt Retz ein. Diese sei nur dann nötig, wenn jemand Schwierigkeiten habe, den Alltag zu bewältigen.
Bei ADHS liegt eine Stoffwechselstörung vor, bei der Botenstoffe wie Dopamin und Noradrenalin im Gehirn aus dem Gleichgewicht geraten und die Reizweiterleitung stören. Betroffene können sich nur schwer auf eine Sache konzentrieren, weil sie auf verschiedene Reize gleichzeitig reagieren. Sie vergessen Termine und kriegen das Durcheinander zu Hause kaum in den Griff. Ihre Gefühle fahren Achterbahn, viele reagieren sehr impulsiv.
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„Unerkannt gleicht die ADHS einem Phantom, das sich durch das gesamte Leben zieht und das sehr zerstörerisch sein kann“, heißt es beim bundesweit tätigen Selbsthilfeverein „ADHS Deutschland“. Viele erwachsene ADHS-Patienten leiden unter beruflichen und privaten Problemen. Nach Auskunft des von Wissenschaftlern gegründeten „ADHS-Netzes“ haben sie häufiger Unfälle und sind einem größeren Risiko ausgesetzt, straffällig zu werden. Weitere Erkrankungen wie Depressionen, Ängste und Sucht sind nicht selten.
Ana Campos wusste lange Zeit nicht, wie sie ihren Mangel an Konzentration und ihre Impulsivität einschätzen sollte. In der Schulzeit saß sie immer vorne, um sich nicht ablenken zu lassen. Vor zehn Jahren kam die Argentinierin nach Berlin. Statt ihrem Wunsch nachzugeben und Psychologie zu studieren, kellnerte sie jahrelang. „Ich bin sehr schnell und schaffe mehrere Dinge gleichzeitig.“ Ihre Ehe jedoch ging in die Brüche.
„Die Störung ist gut behandelbar“, sagt Wolfgang Retz. Bislang wisse man aber zu wenig über den Erfolg von Psychotherapie bei erwachsenen Patienten. Deshalb untersuchen die Wissenschaftler bundesweit knapp 500 Patienten.
Im Mittelpunkt der Verhaltenstherapie steht das speziell für ADHS-Patienten entwickelte „Gruppenfertigkeitentraining“. Dieses kann Erwachsenen helfen, sich besser zu organisieren. „Das Ziel ist, ADHS zu kontrollieren, statt von ADHS kontrolliert zu werden“, betont die Psychiaterin Barbara Alm vom Zentralinstitut für seelische Gesundheit.
Eine aus dem Zen-Buddhismus abgeleitete Achtsamkeitsübung soll darüber hinaus helfen, sich besser zu konzentrieren. „Oft ist man nicht bei der Sache“, erzählt Alm: „Man geht zu einem Vortrag und trinkt noch einen Kaffee. In Gedanken ist man noch bei der Autofahrt und beim Geschenk, das man für morgen braucht. Und plötzlich ist der Becher leer. Es geht aber darum zu lernen, sich bewusst in der Situation auf das Kaffeetrinken zu konzentrieren.“
Erwachsene mit ADHS haben häufig Stärken, die sie selbst nicht erkennen. Sie gelten als besonders kreativ und können sich auf etwas, das sie interessiert, besonders gut konzentrieren. Sie sind einfühlsam und hilfsbereit. Ana Campos versucht, dieses Potenzial zu nutzen und bildet sich jetzt zur Psychotherapeutin fort. „Seitdem ich weiß, warum ich anders ticke, kann ich mich besser akzeptieren. Ich versuche nicht, etwas zu leisten, was ich nicht kann.“
EPD
http://www.welt.de/gesundheit/article68 ... erfen.html